Historismus - ein lang verkannter Stil kommt zu neuen Ehren
Der Historismus und seine Originalität für den Denkmalschutz
Wurde dem Historismus lange Zeit nachgesagt, keine Originalität zu besitzen, wird er in Zeiten der Postmoderne, mittlerweile trotz mangelnder Einheitlichkeit differenzierter betrachtet. Heute sind denkmalgeschützte Immobilien aus der Zeit von Anfang/Mitte des 19. Jahrhunderts bis circa 1920 - ob Häuser oder Eigentumswohnungen - begehrte Objekte für Anleger, Investoren und Selbstnutzer.
Mit seinen Mischformen, Adaptionen und Rückgriffen auf unzählige Stil- und Kulturepochen der Vergangenheit sowie seiner variantenreichen Formen- und Detailvielfalt in Sachen schmückendem Beiwerk, bietet der Historismus für viele Immobilien-Käufer eine willkommene Alternative zur kühlen Eleganz und sachlichen Funktionalität der Moderne.
Zudem waren es überwiegend die eklektischen Inneneinrichtungen der neureichen Bürgerwohnungen, die zum schlechten Ruf des Historismus-Stils beitrugen. Manche Kritiker sprachen hier von einem „Trödelladen“ - der Hit waren „stilgerechte Garnituren“ mit Kronleuchtern, Quasten, Troddeln oder künstlichen Palmen. Und auch manche Modeerscheinung in der Damenwelt jener Jahre erscheint heute eher als „Geschmacksverirrung“, denn als schön oder stilvoll - zum Reifrock kam nun beispielsweise auch noch die Schleppe hinzu.
Geschichtliche Hintergründe des Historismus
Die oft stilistische und kulturelle Unsicherheit, die jener Zeit angelastet wird, basierte auf tiefgreifenden, gesellschaftlichen Umwälzungen, ausgelöst durch Industrialisierung und revolutionäre technische Erfindungen. Durch Rückgriffe auf Altbewährtes wurde versucht, ein gewisses Maß an Kontinuität, Stabilität und Werteorientierung aufrechtzuerhalten.
Kleiner Exkurs:
Diese Umwälzungen hinterlassen einen energetischen Abdruck in jedem Gebäude. Alles ist mit Energie durchzogen. Wie wir schon in der Schule gelernt haben, geht Energie nicht verloren. Daher spüren wir noch heute in den Gebäuden die merkwürdigsten Dinge.
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Dass nichts mehr ist, wie es war und auch nie wieder sein würde - diese Erkenntnis setzte sich erst in der Moderne, besonders gefördert durch die Bauhaus-Bewegung, durch. Es war nicht zuletzt das traumatische Erlebnis des Ersten Weltkriegs, das in den Köpfen der Menschen keinen überflüssigen architektonischen Zierrat und keine Zurschaustellung von Luxus mehr zuließ.
Treibende Kraft des Historismus war das aufstrebende Bürgertum. Diese Gesellschaftsschicht hatte aufgrund der industriellen Revolution einen massiven Wandel erlebt, der in der sogenannten Gründerzeit-Epoche seinen Höhepunkt fand. Dem neu gewonnenen Selbstbewusstsein aufgrund des wachsenden gesellschaftlichen Einflusses und wirtschaftlichen Reichtums wurde - nicht zuletzt für jeden sichtbar - durch repräsentative Bauwerke Ausdruck verliehen. Zuerst, indem das Bürgertum den Adel nachahmte, später auch verstärkt durch eigenständigere Kreationen. Die andere Seite der Industrialisierung war dagegen das immer größer werdende Heer der Arbeiter, das in den schnell sich ausbreitenden Städten in armseligen Mietskasernen lebte. Auch hier war es die Bauhaus-Bewegung, die sich später ihrer Situation annahm.
Stil- und Design-Merkmale des Historismus
Neben repräsentativen Bürgerhäusern entstanden im Historismus auch zahlreiche berühmte öffentliche Gebäude und Denkmäler, wie der Berliner Reichstag oder der Berliner Dom, der Kristallpalast in London, die Votivkirche in Wien oder der Eiffelturm in Paris. Eines jedoch unterscheidet die Bauwerke des Historismus von ihren geschichtlichen Vorbildern - sie ähnelten diesen in der Regel nur äußerlich.
Was Baukonstruktion und Raumgestaltung im Historismus anging, bedienten sich die Architekten dagegen aus dem Spektrum der vielen neuen Materialien und Technologien ihrer Zeit. Stichworte sind hier Eisen und Glas oder die industriellen Farbenproduktion. Besonders letztere hatte einen großen Einfluss, da sich die beschränkte Palette der natürlichen Farbpigmente mit der Entdeckung der künstlichen Farbherstellung schlagartig vervielfältigte. Man spricht beim Historismus im Zusammenhang mit seiner Stilvielfalt auch von den sogenannten Neostilen - zum Beispiel von Neo-Romanik, Neo-Gotik, Neo-Renaissance, Neo-Manierismus, Neo-Barock, Neo-Rokoko oder auch von orientalisierendem Historismus. Letzterer bedient sich nah- und fernöstlichen Gestaltungselementen.
So wurden beispielsweise alte gotische Baudenkmäler, wie der Kölner Dom oder das Ulmer Münster nach Jahrhunderten vollendet und alte Burgruinen wurden nach historischen Vorgaben, aber mit modernen Techniken restauriert und wieder aufgebaut. Andere berühmte Bauwerke wurden von Grund auf neu geschaffen, wie beispielsweise die Semper Oper in Dresden oder die Münchner Feldherrnhalle, beide werden dem Neo-Renaissance-Stil zugeordnet.
Berühmte Vertreter des Historismus
Bekannte Architekten des Historismus waren der Engländer Thomas Cole oder deutsche Karl Friedrich Schinkel. Berühmte Designer waren unter anderem der Schreiner Michael Thonet aus dem Rheinland, aus dessen Werkstatt die berühmten „Wiener Kaffeehausstühle“ stammen. Zu den Vorläufern des Historismus zählt auch der englische Kunstschreiner Thomas Chippendale, der angelehnt an den französischen Rokoko-Stil, bereits im 18. Jahrhundert den später nach ihm benannten Chippendale-Stil entwickelte, der bis heute weltweit eine große Fangemeinde hat.
In seiner Spätphase inspirierte der Historismus teilweise den Jugendstil, der sich um die Wende zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert als eigenständiger Stil etablierte und sich heute auf dem Immobilienmarkt besonders großer Beliebtheit erfreut. Deshalb werden denkmalgeschützte Häuser und Eigentumswohnungen des späten Historismus - beispielsweise aus der Gründerzeit - auch gerne mal unter dem Label „Jugendstil“ vermarktet, obwohl sie in Wirklichkeit keine jugendstil-spezifischen Merkmale aufweisen und kunst- und architekturhistorisch eindeutig dem Historismus zuzuordnen sind.